Die Front bröckelt, die Stimmen der Vernunft werden leiser. Immer lauter ertönen dagegen die Stimmen, die sagen, man könne dem zugegebenermaßen furchtbaren Elend nicht weiter zusehen, die NATO müsse endlich aktiv eingreifen. Selbst die SPD- Vorsitzende Esken will nichts mehr ausschließen.
Umso eindringlicher muss man widersprechen. Was, bitteschön, soll sich denn durch ein Eingreifen der NATO verbessern? Im harmlosesten Fall wird der Krieg weiter eskalieren, sich zumindest auf russisches Territorium und auf osteuropäische Staaten ausweiten und auf beiden Seiten werden noch viel mehr Menschen sterben. Die ukrainischen Geflüchteten, die sich gerade mit Mühe in die osteuropäischen NATO-Staaten gerettet haben, würden erneut unter Beschuss geraten. Nach einigen Monaten oder sogar Jahren wird man sich auch dann an den Verhandlungstisch setzen müssen und einen Frieden aushandeln. Das kann man auch gleich tun, ohne dass vorher noch zigtausende unschuldiger Menschen sterben.
Im schlimmeren Fall - und das ist durchaus eine reale Gefahr - nimmt der Krieg nukleare Dimensionen an und dann ist alles zu spät. Alleine dieses Risiko einzugehen wäre, mit Verlaub, hirnrissig.
In dieser Angelegenheit sind mit Sicherheit nicht die Ukrainer unsere besten Ratgeber, die mit dem Rücken zur Wand stehen und die Gefahr eines nuklearen Schlagabtauschs gefährlich unterschätzen. Im Gegenteil, wir müssten endlich den Mut haben zu fragen, wie lange es noch sinnvoll ist, Städte wie Mariupol zu halten und ob es möglicherweise nicht klüger wäre, die Stadt militärisch aufzugeben und dort, ebenso wie in dem bereits eroberten Cherson, nur noch zivilen Widerstand zu leisten. Im Krieg ist nichts sicher, aber eventuell könnte man sehr viele Menschenleben retten, wenn man jetzt zu einem Guerillakrieg der Nadelstiche überginge und ansonsten zivilen Widerstand leistet, so lange, bis eine Verhandlungslösung gefunden ist. Selbstverständlich muss das die ukrainische Regierung entscheiden, aber wir müssten dann auch selbstbewusst sagen: Sollte man sich auf einen blutigen Häuserkampf in Kiew einlassen, ist das keine alternativlose Taktik. Natürlich ist Putin der Aggressor, der Kriegsverbrecher, aber es geht doch jetzt schlicht und einfach darum, dass möglichst wenige weitere Menschen sterben, bis eine Lösung gefunden wird.
Leider hat man im Augenblick das Gefühl, dass die Hysterie überhand nimmt. Es wird viel gefühlt und wenig gedacht.
Dasselbe gilt für das Öl- und Gasembargo. Wenn wir ab sofort kein weiteres Öl und Gas mehr von Russland kaufen, wird Putin das frühestens in einem halben Jahr so schmerzhaft spüren, dass er seine Verhandlungspositionen ändert. Ob wir das allerdings so lange durchhalten können, mit dem Verlust von Hunderttausenden von Arbeitsplätzen und einer zusammenbrechenden Infrastruktur, ist höchst zweifelhaft.
Man kann Politik nicht mit dem Zauberstab machen, simsalabim, und die Welt ist wieder in Ordnung. Das Umrüsten auf Flüssiggas, die Entwicklung alternativer Energien, das alles wird noch viele Jahre dauern und es wird sehr viel Geld kosten. Der Satz: „Wir haben ja Wind und Sonne, das kostet nichts“, verdient bereits jetzt einen Preis für den dümmsten Spruch des noch jungen Jahres.
Verlieren wir die Stimme der Vernunft, verlieren wir alles.
Man kann nur hoffen, dass Leute wie der NATO Vorsitzende Stoltenberg, unser Kanzler Scholz und die Verteidigungsministerin Lamprecht an ihrem Kurs festhalten.
Comments